Das Konzept der Einschreibungen
KunstSEIN ist etwas ganz Außergewöhnliches: Vor keiner Tierhöhle fand man jemals Skulpturen,
und in keiner tierischen Behausung entdeckte man je ein Bild. Kunst ist also Ausdruck des MenschSEINs.
Mit ihr ist das Tier zum Mensch geworden.
MenschSEIN? KunstSEIN?
Kandinsky erklärt unmissverständlich, dass sich „der Prozess der schöpferischen Tätigkeit in Wissenschaft,
Technik oder Kunst nicht im Geringsten voneinander unterscheidet“. Duchamp meint, dass „alles Kunst ist“,
T. Ulrichs stellt sich selbst aus und postuliert damit, dass „jeder ein Kunstwerk“ ist, und Beuys erklärt
sowieso „jeden zum Künstler“.
Ob Wissenschaftler, Künstler, Techniker - sie alle erschaffen Werke auf kreativem Wege und fügen der Welt
Neues hinzu. Welche oder wessen Entscheidung macht nun ein Werk wirklich zum Kunstwerk?
Zeigt die
Geschichte hierbei nicht eine eigenartige Entscheidungs-Willkür auf? Viele jener Meisterwerke, von denen
heute die Kriterien zur Unterscheidung von Kunst und NICHT-Kunst abgeleitet werden, wurden bei ihrer Entstehung
als NICHT-Kunst diffamiert. Gibt dies nicht Anlass nachzudenken?
Aber wen kümmern diese Überlegungen wirklich? Was nicht in die Vorstellung des Betrachters passt, wird
herabgewürdigt. Der mittlerweile schon obligatorische „Das kann ich auch“ - Kommentar fehlt heute bei
keiner Vernissage mehr. Die Masse will Kunst noch immer weit über sich erhöht sehen und mystifiziert
den Schöpfungsprozess.
S. Polke persifliert dieses Ansinnen übrigens mit dem Werk „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz
malen“ in treffender Weise.
Nun, wir wollen den Betrachter ernst und beim Wort nehmen. Er soll sich selbst ins Werk
EINSCHREIBEN:
ergänzend, erhöhend, korrigierend ... Er soll von sich Botschaft geben, seine Spuren hinterlassen und so mit
dem veränderten Werk dem Nächsten etwas sagen.
Dadurch transformiert das Werk oft zu einer komplett
anderen Aussage: Es wird zum „Readymade“ mit dem Betrachter als neuem Autor - und dieser wird dadurch vom
passiven Betrachter zum aktiven Künstler, ... zu einem Künstler, der ein Readymade geschaffen hat - diesmal
bewusst und für jeden sichtbar. Und vielleicht lässt ihn dies auch erkennen, dass er das unbewusst immer dann
tut, wenn er dem betrachteten Artefakt durch seine subjektive Interpretation seine eigene Sicht und damit auch
seine Bedeutung einschreibt.
Diese „dynamischen“ Readymades kommunizieren nun mit dem nächsten Betrachter, der wiederum vor der gleichen
Entscheidung steht: Entweder das Werk zu achten, indem er es durch die Augen des Künstlers sieht und so zu
verstehen beginnt, oder sich sein eigenes Readymade zu kreieren.
Diese Entscheidung steht natürlich jedem frei, und beides ist legitim - bedeutet aber einen komplett anderen
Zugang zu Kunst, Künstler und Kunstwerk!
Denn durch die Erschaffung eines Readymades verharrt der Betrachter
in seiner eigenen Welt, sieht nicht weiter als bis zu seinem naturgemäß limitierten Denk- und Imaginationshorizont,
... ein eigentlich autistischer Zugang.
Duchamps -zwiespältige- Überlegung „Der Betrachter vervollständigt das Kunstwerk“ wird in unseren Arbeiten
ernst genommen und damit die Grenze zwischen Betrachter, Kunstwerk und Künstler aufgehoben. Oder auch nicht,
- wenn man es zu Ende denkt!
Um das Konzept zu illustrieren, hier die „Einschreibungen“ der Besucher der Ausstellung „decision“ im Kunstmuseum Gelsenkirchen 2011:
links: beim Aufbau, Mitte: EINSCHREIBUNGEN bei der Vernissage, rechts: nach der Hälfte der Ausstellungszeit
Die Einträge/Kommentare reichen in ihrer Bandbreite von kindisch, kindlich, witzig, originell, ernsthaft bis hin zu sehr großem Tiefgang oder sind gar philosophischer Natur. Und mit der Zeit reagieren die Betrachter immer mehr auf die Einschreibungen, als auf das Ursprungswerk.