PLATOS HÖHLENGLEICHNIS
Sokrates im Dialog mit Glaukon über die Gefangenschaft in der Schattenwelt



Sokrates: Mein lieber Freund Glaukon, stelle dir Menschen in einer höhlenartigen Wohnung vor, die von Kind auf ihr ganzes Leben dort verbracht haben. Sie sitzen unbeweglich wie gefesselt vor einer Wand, die die Schatten ihrer selbst und der realen Welt abbildet.

Glaukon: Aber erkennen diese Menschen denn nicht, dass sie nur den Schein erleben?

Sokrates: Nein, denn von diesen Schattenspielen sind sie derart in den Bann gezogen, dass sie nicht nach links und rechts blicken und weder sich selbst noch die anderen um sich herum wahrnehmen.
Es ist ein sehr verführerisches Leben, denn diese Virtualität ermöglicht zu sein, wie man gerne wäre, aber nicht ist. Man kann Abenteuer erleben, ohne die Anstrengungen und Gefahren der Realität zu erfahren, sich von tausenden Freunden "liken" lassen und jedem Konflikt aus dem Wege gehen, indem man Unbequemes "wegklickt".

Glaukon: Sag, ist das nicht recht opportunistisch und ein Zustand von Schein-Glückseligkeit?

Sokrates: Wie wahr, der Schein trügt ... Und nun Glaukon, stell dir weiters vor, dass einer der Höhlenbewohner dies zu hinterfragen beginnt. Er selbst wird Qualen des Zweifels durchleben und von den anderen Anfeindungen und Ausgrenzung erfahren. Gelingt es ihm trotz alledem, sich aus dem hypnotischen Bann der Scheinwelt zu lösen und den Schritt zu wagen, in die reale Welt aufzusteigen, so wird er wohl von ihrer Wucht überrascht sein.

Glaukon: Bei Zeus, alle gegen sich zu wissen und einen unsicheren Weg zu gehen, verlangt wahren Heldenmut!

Sokrates: Ja, Glaukon. Doch die Realität wird er anfangs nur schwer ertragen. Die grelle Sonne wird ihn blenden, und die vielen Entscheidungen auf Schritt und Tritt werden ihn fordern. Er, der schutzlos aus der heilen Welt der Trugbilder kommt, wird wohl überwältigt sein von den lebendigen Eindrücken, die ihn zum ersten Mal sich SELBST spüren lassen.

Glaukon: Gewiss, das ist ganz sicher eine gewaltige Erfahrung: das erste Mal wahrhaftig zu SEIN und das Leben mit all seinen Sinnen zu erfahren! ... und das mächtige Gefühl, sich der Täuschung und Manipulation widersetzt zu haben und sein Leben selbst und real zu gestalten.
Wird er denn dieses Wissen jetzt nicht auch den anderen Höhlenbewohnern mitteilen wollen, um sie aufzuklären?

Sokrates: Nun, die Skepsis und Feindseligkeit der anderen wird wohl noch schmerzhaft in Erinnerung sein! Würde er von der realen Welt und seinen berauschenden Erlebnissen erzählen, wer wollte ihm glauben, wer das Gewohnte und Liebgewonnene aufgeben?
Schnell würde dieser Whistleblower zum Feind erklärt werden, nur um sich nicht unbequemen Wahrheiten und einer selbst verschuldeten Unmündigkeit stellen zu müssen. Ans Kreuz würde man ihn schlagen, nur um die eigene Bequemlichkeit nicht aufgeben und den Opportunismus erkennen zu müssen.

Glaukon: Die Schattenwand fesselt wohl viele Menschen. Und heutzutage entscheiden sich immer mehr aus freien Stücken, in die verführerische Welt der Neuen Medien hinabzusteigen, anstatt sich ihr zu entziehen. Zu verlockend einfach ist doch die virtuelle Welt und zu komplex und vermeintlich feindlich die reale: Hier muss man sich persönlich einsetzen, echte Gefahren auf sich nehmen und sich seines eigenen Verstandes bedienen.
Virtualität jedoch verspricht leichtes Glück!

Sokrates: Sehr richtig, Glaukon. Glückliche Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit!
Doch die Realität ist dem Menschen zumutbar!